Was ist Ego State Therapie?
Die Ego-State-Therapie ist ein wirksamer psychotherapeutischer Ansatz, der davon ausgeht, dass unsere Persönlichkeit aus verschiedenen Persönlichkeitsanteilen, den sogenannten „Ego-States“, besteht. Als eines von mehreren therapeutischen Teilemodellen unterscheidet sie sich dadurch, dass sie diese inneren Anteile nicht vorab festlegt. Stattdessen erkundet sie die individuellen Persönlichkeitsanteile von Menschen und deren spezifische Bedeutung für ihre Gesamtpersönlichkeit.
Besonders in der Behandlung von Traumafolgestörungen hat sich dieser integrative Ansatz als äußerst wirksam erwiesen. In diesem Beitrag erfahren Sie mehr über die Grundlagen und Anwendung der Ego-State-Therapie und können durch eingebundene Videos einen praxisnahen Einblick gewinnen.
Was sind Ego-States?
Die Ego-State-Therapie geht von einem grundlegenden Verständnis der menschlichen Persönlichkeit als Multiplizität aus - einer inneren Vielfalt. Während wir einerseits eine klare Vorstellung von uns als Person haben, die sich durch die Jahre entwickelt und eine gewisse Konstanz aufweist, besteht unsere Persönlichkeit gleichzeitig aus verschiedenen Anteilen, den sogenannten Ego-States.
"Ein Ego-State repräsentiert ein eigenes Erleben. Er gehört natürlich zu der Person, die ihn trägt, repräsentiert aber nur einen Ausschnitt. Der Ego-State sieht die Welt wie mit eigenen Augen, hat ein ganz eigenes Verständnis und eine selektive Wahrnehmung." (Zitat Dr. Kai Fritzsche)
Diese Ego-States sind keine flüchtigen Erscheinungen oder vorübergehenden Zustände. Sie sind überdauernde Persönlichkeitsanteile, die ein eigenes charakteristisches Erleben repräsentieren und spezifische Funktionen für unsere Gesamtpersönlichkeit übernehmen. Jeder dieser Anteile entwickelt sich als Antwort auf grundlegende psychische Bedürfnisse und bedeutsame Lebenserfahrungen.
Die Entstehung von Ego-States ist kein Zufall. Sie können bereits sehr früh im Leben entstehen, etwa durch prägende Beziehungserfahrungen in der Familie, oder sich später als Reaktion auf wichtige Lebensereignisse entwickeln. Was dabei zunächst als beste verfügbare Lösung für eine bestimmte Situation entsteht, kann sich im weiteren Lebensverlauf als herausfordernd erweisen.
Ein besonderes Merkmal der Ego-State-Therapie ist ihr individueller Zugang: Anders als andere Teilenmodelle arbeitet sie nicht mit vorab festgelegten, typischen Persönlichkeitsanteilen. Stattdessen geht sie von der Einzigartigkeit jedes Menschen aus und erkundet, welche spezifischen Ego-States sich im Leben dieser Person entwickelt haben. Diese individuellen Anteile werden in ihrer jeweiligen Funktion und Bedeutung für die Gesamtpersönlichkeit verstanden und gewürdigt.
Ziele der Ego-State-Therapie
Das Hauptziel der Ego-State-Therapie ist die Integration der verschiedenen Persönlichkeitsanteile. Anstatt destruktive oder traumatisierte Anteile zu unterdrücken, werden sie wertschätzend behandelt und in die Gesamtpersönlichkeit integriert. Dadurch entsteht eine Kooperation aller Anteile, was zur Linderung von Symptomen und zur Verbesserung der psychischen Gesundheit führt.
"Das Problem besteht nicht in der Existenz der Ego-States, sondern in einer Unerreichbarkeit von Ego-States." (Zitat Dr. Kai Fritzsche)
Ein wesentliches Merkmal dieses therapeutischen Ansatzes ist das Verständnis, dass die eigentliche Problematik nicht in der Existenz verschiedener Persönlichkeitsanteile liegt. Vielmehr entstehen Schwierigkeiten durch fehlende Kommunikation und mangelnde Kooperation zwischen den Anteilen. Die therapeutische Arbeit fokussiert sich daher auf mehrere Kernaspekte:
- Kontaktaufnahme zu isolierten Anteilen
- Verständnisentwicklung für die Funktion jedes einzelnen Anteils
- Förderung der inneren Kommunikation zwischen den Anteilen
- Aufbau von Beziehungen zu abgespaltenen oder vermiedenen Anteilen
- Entwicklung funktionaler Strategien im Umgang mit belastenden Situationen
Der Weg zur Integration führt dabei über die aktive Begegnung mit den verschiedenen Persönlichkeitsanteilen. In der therapeutischen Praxis bedeutet dies, dass zunächst eine Beziehung zu den einzelnen Anteilen aufgebaut wird. Diese werden gewürdigt und in ihrer spezifischen Funktion verstanden, bevor gemeinsam neue Wege der Zusammenarbeit entwickelt werden können.
Die Ego-State-Therapie als wirksame Behandlung von Traumafolgestörungen
Die Ego-State-Therapie erweist sich als besonders geeigneter Ansatz für die Behandlung von Traumafolgestörungen, da sie die komplexen psychischen und körperlichen Prozesse nach einer Traumatisierung integrativ zusammenführen kann. Gerade weil bei Traumafolgestörungen multiple Prozesse parallel ablaufen, bietet ein Behandlungsmodell, das von verschiedenen, gleichzeitig agierenden Persönlichkeitsanteilen ausgeht, bedeutende Vorteile. Es ermöglicht Therapeut:innen, diese Gleichzeitigkeit verschiedener innerer Prozesse direkt in ihr therapeutisches Konzept einzubeziehen und damit zu arbeiten. Traumatische Erlebnisse können dazu führen, dass bestimmte Ego-States isoliert oder dysfunktional werden, was zu Symptomen & Störungen führen kann.
"Ein bewältigender Ego-State entwickelt Strategien, die ursprünglich Lösungen waren. Was heute ein Problem ist, war früher die beste verfügbare Lösung für eine Not." (Zitat Dr. Kai Fritzsche)
Als einer der führenden Experten hat Dr. Kai Fritzsche maßgeblich dazu beigetragen, diese wirkungsvolle Methode im deutschsprachigen Raum zu etablieren und weiterzuentwickeln. In diesem Beitrag erfahren Sie mehr über die theoretischen Grundlagen, praktische Anwendungsmöglichkeiten und essenzielle Interventionen dieser therapeutischen Methode und können ihm bei der Arbeit in einem Praxisfall über die Schulter schauen.
Wer ist Dr. Kai Fritzsche?
Dr. Kai Fritzsche lebt und arbeitet in Berlin, wo er eine Praxis mit Fokus auf die Behandlung von Traumafolgestörungen, insbesondere dissoziativen Störungen, führt. Gemeinsam mit Maria Schnell steht er an der Spitze des Instituts für klinische Hypnose und Ego-State-Therapie (ifHE), dessen begehrte Ausbildungsprogramme regelmäßig lange Wartelisten verzeichnen. Kai Fritzsche ist Autor zahlreicher Bücher & Fachartikel zur Ego-State-Therapie und Traumatherapie und bringt über zwei Jahrzehnte Erfahrung in der traumatherapeutischen Arbeit mit. Er gilt als einer der führenden Köpfe im Bereich der Behandlung von Traumafolgestörungen im deutschsprachigen Raum.
Theoretische Grundlagen der Ego-State-Therapie
Ausschnitt aus dem Grundlagenbereich im Online-Kurs Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen
Entstehung von Ego-States
Dr. Kai Fritzsche erläutert die Entstehung von Persönlichkeitsanteilen anhand zweier Modelle:
1. Psychische Grundbedürfnisse nach Klaus Grawe
Ego-States entwickeln sich als Strategien, um grundlegende psychische Bedürfnisse zu erfüllen:
- Kontrolle und Orientierung
- Bindung
- Selbstwertschutz
- Lustgewinn und Unlustvermeidung
Wenn diese Bedürfnisse bedroht sind, entstehen Persönlichkeitsanteile, die versuchen, ein Gleichgewicht herzustellen.
2. Modell von Helen und John Watkins
Drei Mechanismen der Entstehung:
- Normale Differenzierung: Helen Watkins und John Watkins haben betont, dass Ego-States durch die normale Entwicklung in Familie und Kultur entstehen.
- Introjektion: Aufnahme von äußeren Einflüssen, positiv oder negativ (z. B. Täterintrojekte).
- Traumatisierung: Durch traumatische Erlebnisse entstehen spezifische Ego-States, die das Trauma tragen oder Bewältigungsstrategien entwickeln.
Typen von Ego-States
Dr. Fritzsche identifiziert drei Haupttypen von Ego-States. Diese Unterscheidung ist wichtig, da jeder Typ einen eigenen therapeutischen Ansatz benötigt und einen eigenen Stellenwert im therapeutischen Prozess einnimmt:
- Ressourcenreiche Anteile: Diese Anteile verfügen über Stärken und Fähigkeiten und können als hilfreiche Ressource im therapeutischen Prozess genutzt werden.
- Traumatisierte oder symptom-assoziierte Anteile: Diese tragen das Leiden oder die Symptome.
- Bewältigende oder destruktiv wirkende Anteile: Diese entwickeln Strategien, um mit dem Leiden umzugehen, die jedoch langfristig problematisch sein können und bei den Klient:innen meist zu Symptomatiken führen.
Prozessorientierte Ziele der Ego-State-Therapie
Als therapeutischen Leitfaden definiert Dr. Kai Fritzsche prozessorientierte Ziele. Dabei misst er der Förderung von Akzeptanz und Verständnis für die verschiedenen Anteile besondere Bedeutung bei, da diese die Grundlage für eine erfolgreiche Integration bilden:
- Kontaktaufnahme mit Ego-States: Aufbau einer Verbindung zwischen Therapeut:in, Klient:in und den inneren Anteilen. Kai Fritzsche betont, dass die Kontaktaufnahme nicht vorausgesetzt wird, sondern ein eigenes therapeutisches Projekt bildet. Der direkte Kontakt zu den Ego-States ist ein wichtiger erster Schritt, um Informationen zu Behandlungsangeboten zu erhalten und Unterstützung bei psychischen Belastungen zu finden.
- Kommunikation mit Ego-States: Entwicklung eines Austauschs zwischen der Klient:in als Gesamtperson und ihren Anteilen, sowie zwischen Therapeut:in und den Anteilen der Klient:in.
- Akzeptanz der Ego-States: Förderung der Annahme aller Anteile durch die Klient:in. Dies ist besonders bei traumatisierten und destruktiv wirkenden Ego-States eine Herausforderung, da viele Patient:innen diese Anteile zunächst ablehnen.
- Verständnis für die Ego-States: Erfassen der Funktionen und Bedürfnisse der einzelnen Anteile. Kai Fritzsche betont, dass Verständnis und Akzeptanz nicht das Gleiche sind – man kann einen Anteil verstehen, ohne ihn zu akzeptieren und umgekehrt.
- Unterstützung der Ego-States: Versorgung und Nachbeelterung der verletzten Anteile. Dies ist laut Kai einer der größten Bausteine der Ego-State-Therapie oder der Teilearbeit.
- Nutzung der Ego-States: Einbindung der Anteile in den therapeutischen Prozess. Dies betrifft sowohl ressourcenreiche als auch destruktiv wirkende Anteile, wobei letztere oft auf der “Bremse stehen” und erst für die Therapie gewonnen werden müssen.
- Integration der Ego-States: Zusammenführung aller Anteile zu einer kooperativen Gesamtpersönlichkeit. Kai betont, dass Integration nicht bedeutet, dass der Anteil “24 Stunden am Tag sozusagen wie aktiv sein muss”, sondern dass er zur Persönlichkeit dazugehören darf.
Ausschnitt aus dem Handwerksteil im Online-Kurs Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen
Praxisbeispiel: Der Fall Katrin Thomas
Ein Beispiel aus der Praxis von Dr. Fritzsche ist der Fall von Katrin Thomas. Dieser Fall veranschaulicht, wie die Ego-State-Therapie bei komplexen Traumafolgestörungen eingesetzt wird.
Um das auf berufsethisch angemessene und verantwortungsvolle Art und Weise möglich zu machen, casten wir professionelle Schauspieler:innen für die Rollen der Klient:innen. Statt mit einem Drehbuch werden sie allerdings nur mit einer Fall- und Rollenbeschreibung ausgestattet. Der Ablauf der Therapiesitzungen bleibt dadurch der freien Improvisation überlassen, woraus fühlbar authentische Sitzungen und Fallverläufe entstehen, die im Nachgang von Dr. Kai Fritzsche erläutert und kommentiert werden.
Ausschnitt aus einem Praxisfall im Online-Kurs Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen
Hintergrund des Praxisfalls
Katrin Thomas kam nicht mit typischen Traumasymptomen in die Praxis, sondern mit spezifischen Beschwerden, die auf eine Zwangsstörung hinwiesen. Sie selbst war sich nicht bewusst, dass es sich um eine Zwangsstörung handelte, und wollte ihre Symptome schnellstmöglich behandelt wissen.
Der therapeutische Prozess
Im Verlauf der Therapie wurde deutlich, dass hinter der Zwangssymptomatik ein schweres Trauma stand: Ein schwerer Verkehrsunfall, bei dem ihr Lebenspartner ums Leben kam. Die Therapie führte somit von der Behandlung der Zwangssymptomatik zur Konfrontation mit dem traumatischen Ereignis und der zugrunde liegenden Traumafolgestörung.
Interessanterweise ging der Prozess noch eine Ebene tiefer. Die Patientin stellte sich die Frage, warum sie auf das Trauma mit einer Zwangssymptomatik reagierte. Diese Reaktion war auf Bindungsstörungen in ihrer Kindheit zurückzuführen.
Dr. Fritzsche fasst zusammen:
“Es gibt wie drei Ebenen: Die erste Ebene wäre die der Zwangssymptomatik, die zweite Ebene wäre die Typ-1-Traumatisierung – der Verkehrsunfall, und die dritte Ebene ist eine Art Bindungstraumatisierung, also Bindungsstörung in der Kindheit. Alle drei werden in dem Fall berücksichtigt und traumatherapeutisch behandelt.”
Die vierte Sitzung: Konfrontation und Versorgung
Wir zeigen hier einen kurzen Ausschnitt aus der vierten Sitzung mit Katrin Thomas. Im Online-Kurs Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen sehen Sie alle sechs kommentierte Sitzungen.
Die Sitzung fokussierte sich auf zwei Hauptperspektiven:
- Konfrontation mit traumatischem Erinnerungsmaterial: Die Patientin wurde behutsam mit den realen Erinnerungen des Unfalls konfrontiert.
- Begegnung und Versorgung traumatisierter Ego-States: Die verletzten Anteile der Patientin wurden angesprochen und versorgt.
Dieses Fallbeispiel zeigt eindrucksvoll, wie die Ego-State-Therapie komplexe Traumafolgestörungen adressieren kann, indem sie verschiedene Ebenen des Erlebens einbezieht und die Patientin aktiv am Prozess beteiligt.
Der Online-Kurs mit Dr. Kai Fritzsche
In seinem Online-Kurs Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen vermittelt Dr. Kai Fritzsche praxisnah und fundiert sein Wissen.
Von der therapeutischen Haltung über theoretische Grundlagen bis zum konkreten Handwerkszeug - der Online-Kurs bietet eine systematische Einführung in die Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen.
Herzstück sind vier ausführlich kommentierte Praxisfälle mit professionellen Schauspieler:innen, die besonders relevante Momente und Vorgehensweisen aus der therapeutischen Arbeit authentisch demonstrieren. „Das Film-Projekt ermöglicht mir, meine Arbeit in einer Art und Weise zu zeigen, die in Seminaren und Workshops nur begrenzt umsetzbar ist“, erklärt Dr. Fritzsche, dessen Präsenzseminare regelmäßig lange Wartelisten aufweisen.
Dieser Kurs wird mit 49 Fortbildungspunkten zertifiziert und bietet unsere 30-Tage-Geld-zurück-Garantie, die für alle life lessons Kurse gilt.